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Von den Leuten, die mit Lilli im Krankenhausflur sitzen und warten, dass eine himmlische Stimme sie aufruft, sieht Lilli nicht viel, denn jeder hat einen Turm aus Tasche, Jacke, Mütze, Schal und Handschuhen auf den Knien. Sehr krank sehen sie jedenfalls nicht aus, was wohl hauptsächlich daran liegt, dass es sich um eine HNO-Abteilung handelt - da geht die Krankheit mehr nach innen als nach aussen. Immer mal wieder kommen Krankenschwestern vorbei, oder Pfleger oder wie sie heissen, mit wehendem Mantel und diesem Gesichtsausdruck, der aus "Ich hab schon viel Leid gesehen" und "Jetzt haben Sie sich mal nicht so" besteht. Dann eine Frau mit einem Wägelchen, die rechts und links ihre Waren anpreist. "Kaffee", denkt Lilli, aber als die Frau auf Lillis Höhe angekommen ist, sagt sie nicht "Kaffee", sondern "Grippeimpfung" und lächelt auffordernd. Letztes Jahr um diese Zeit waren die Leute bereit gewesen, für eine Grippeimpfung zu morden oder vier Stunden lang in der Kälte anzustehen. Letztes Jahr gingen Lilli und die Stroche in ein extra eingerichtetes Grippeimpfzentrum, das in einem umfunktionierten Autohaus untergebracht worden war, und liessen sich in einem verglasten Büro impfen, in dem zuvor Verkäufer und Kunden über Kaufverträgen und Zusatzgarantien schwitzten. Jetzt schütteln die Leute höflich den Kopf, und auch als die Frau mit dem Wägelchen dazusetzt, dass die Grippeimpfung kostenlos ist, lächeln alle bedauernd und schütteln weiter den Kopf. Auch Lilli will keine Grippeimpfung. Sie will, dass Monsieur neben ihr sitzt und ihre Hand hält. Denn wenn es um Ohrenweh geht, ist sie nicht die grosse Lilli, sondern höchstens sieben Jahre alt.
Lilli legt los - 9. Dez, 16:42