Winnenden in Kanada
Selten nur kommt Deutschland in den kanadischen Nachrichten vor. Gestern abend aber wurde Lillis Geburtsland schon im Aufmacher genannt, und etwas später fiel der Ortsname Winnenden, den Lilli gut kennt. Ihr Hautarzt war dort, früher mal, und der Optiker von Lillis Mutter, außerdem ist Winnenden so ein hübsches Städtchen, in dem man gut bummeln kann, weil alles so nah beieinander liegt. Winnenden hat auch eine psychiatrische Anstalt, weshalb Lillis großer Bruder, der Önologe, sie gern mit dem Abzählreim „Lilli geht nach Winnenden, in die Stadt der Spinnenden…“ hänselte. Gestern abend zischten also plötzlich Bilder aus Winnenden in Lillis Wohnzimmer: Realschule, Polizei, verängstigte Jugendliche, ein mit Bändern abgesperrter Autohändler, noch mehr Polizei. Und Angela Merkel, die sich in grauer langer Jacke an die Nation wendet, wovon leider nichts zu verstehen war, weil der kanadische Reporter seinen Bericht darübersprach. Nur kurz vor Ende des Berichts wurde der Originalton aufgedreht, um ein letztes deutsches Wort hören zu lassen, „fassungslos“. Lilli erinnert sich plötzlich daran, wie sie das erste Mal von einer Schießerei in einer Schule gehört hatte. Da hatte sie noch in Deutschland gewohnt, es war 1989 gewesen und hatte sich – seltsamerweise – in Montreal ereignet, als ein Mann in einer Fachhochschule auftauchte, die Tür zu einem Hörsaal aufriss, die Jungs aus der Vorlesung schickte und die Mädchen der Reihe nach erschoss. Auch damals hatte es keine Erklärung dafür gegeben, und Versuche, den Täter zu verstehen, indem man seine unglückliche Kindheit durchstöberte, blieben unbefriedigend. Jetzt gibt es einen Film darüber, „Polytechnique“, der zwar die Tat nachstellt, aber nicht den Anspruch erhebt, irgendetwas zu erklären. Wie könnte man auch? So oft es sich ereignet, bleibt es doch unverständlich, und man sitzt vor dem Fernseher und schüttelt den Kopf. Fassungslos.
Lilli legt los - 12. Mär, 10:36
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