Strolche
Eine Reihe kleiner schwarzer Fußabdrücke ziert seit vier Tagen die Holztreppe, die vom Erdgeschoß hinauf in die Kinderzimmer führt. Schuhgröße 34, würde ich mal sagen. Solche Abdrücke entstehen, wenn ein Strolch draußen barfuß läuft, sich dann unten im Bad die Hände wäscht, dabei fürchterlich auf den Fußboden tropft, durch diese Tropfen durchläuft und mit den nassen Füßen die Treppe hochstapft. Hat man solche Abdrücke im Haus, kann man zweierlei daraus folgern:
1. In Montréal ist es Sommer geworden.
2. Hier müsste endlich mal wieder jemand putzen.
Freiwillige, irgendwo?
Lilli legt los - 13. Jun, 11:03
Heute morgen verlängerte Lilli ihre Laufstrecke, um wie ein Industriebetrieb in Rationalisierungszwang in der gleichen Zeit mehr zu schaffen. Dies bescherte ihr nicht nur neuen Ansporn, sondern auch Einblicke in eine neue Straße:
In dieser Straße stehen vier tupfengleiche Häuser aus dem 19. Jahrhundert, von denen ich (dank meines Grundsatzes, dass man, um sich irgendwo einzugewöhnen, nicht nur die Lokalpresse lesen sollte, sondern sich sogar die meist ungenießbare Lokalstpresse zu Gemüte führen muss) schon gehört hatte. Sie werden "les maisons des mariées" genannt, also die Häuser der Bräute, da ein Vater sie seinen vier Töchtern zur Hochzeit geschenkt hat. Sie stehen sich zwei und zwei gegenüber und sehen mit ihren runden Veranden, den kleinen Balkönchen im ersten Stock und der Holzvertäfelung irre romantisch aus. Ich sehe es direkt vor mir, wie sich der Vater, in abgeschabten Flanellhosen mit Hosenträgern und kariertem Hemd, die Hände reibend selbst zu diesem Entschluss gratulierte: „So, jetzt kann keine von Euch motzen, dass sie benachteiligt wurde.“ Und noch ein paar deftige Flüche, wie sie hier in Québec leicht über die Lippen gehen, nachschickte. Maudite bonne affaire.
Ich schätze, streitende Geschwister gibt es nicht erst, seit die Strolche auf der Welt sind. Ein tröstender Gedanke.
Lilli legt los - 28. Mai, 09:26
So ein Durchhänger ist natürlich kein Grund, kürzer zu treten. Auf die richtige Dosierung kommt es an, und nach einem missbilligenden Kopfschütteln der Schwäbin in ihr rappelt sich Lilli nach dem Ruhetag wieder zum Morgenlauf auf. Und hatte am Wochenende danach sogar noch genügend Ausdauer für folgende Aktivität:
Am Sonntag war genau der richtige Tag für einen Ausflug mit den Strolchen ins "Paladium". Jeder hier scheint diese Institution aus seiner Jugend zu kennen, nur mir war das Phänomen natürlich gänzlich unbekannt. Es handelt sich um ein Etablissement, das von außen wie eine Eishalle aussieht, von innen auch genauso riecht, aber anstelle von Eis einen erstklassigen Parkettboden zu bieten hat. Dieser dient unter der Woche zum Bingospielen (Klapptische und -stühle waren den Gang entlang aufgestapelt und schufen so eine Atmosphäre, die ungefähr so kuschelig war wie ein Nadelkissen), samstags zum Tanzen (ein Blick an die Decke erhaschte dann auch sofort die Discokugel und Reihen von farbigen Scheinwerfern) und sonntags zum Rollschuhfahren. Dies war ja auch unser Vorhaben, und als die Strolche und ich ausreichend berollschuht waren und es geschafft hatten, den Einstieg in die dahinrasende Menge zu finden, liessen wir uns mitreissen und fuhren zwei Stunden lang zum Dröhnen der Discomusik in immer schnelleren Kreisen dahin. Ich weiß, dass man diese Momente genießen muss, denn nicht mehr lange werden meine Kinder ihre Mutter dafür cool finden, dass sie sowas mitmacht...
Jedenfalls war ich überrascht, das Rollschuhbein nach dem Energietief der Woche mit solcher Leichtigkeit schwingen zu können. Gibt es da ein Naturgesetz, so nach der Art: Je mehr Energie man verbraucht, um so mehr kriegt man wieder zurück? Anscheinend soll Sport ja sogar für die Libido Wunder wirken. Darüber werde ich mich an dieser Stelle aber nicht auslassen.
Lilli legt los - 15. Mai, 10:22
Nur eine Muttertagskarte vom kleinen Strolch, eine wunderschöne. Je t’adore, je t’aimerai toujours, große Worte für so einen kleinen Kerl. Nix vom großen Strolch, da hatte wohl seine Lehrerin keine Lust, mit der Klasse noch zusätzlich zum normalen Programm einen Muttertagstext zu schreiben. Zuerst war ich darüber enttäuscht, dann ging ich Laufen und kam dabei zu der Erkenntnis, dass Kinder uns sowieso nur als Mutter lieben können, also als Institution, nicht aber als Person, und dass man das von ihnen auch gar nicht verlangen sollte. Sie sehen in uns die Versorgerin, die Seelsorgerin, nicht aber den Menschen, der sich vielleicht mit Fragen herumquält, Zweifel hegt oder liebend gern Mezzosopran geworden wäre… Fragt man später mal meine Kinder, wie ihre Mutter war, werden sie vielleicht (wenn ich Glück habe) erzählen, dass ich Maultaschen für sie machte und Pippi Langstrumpf vorlas, oder aber (im schlimmsten Fall), dass ich sie unterdrückte oder die Freude am Essen durch ständiges Triezen mit guten Tischmanieren auf immer vergällt habe. Jedenfalls wird ihr Bericht Lücken aufweisen, und das ist vielleicht auch gut so, denn Kinder sind nun mal nicht Freunde oder Liebhaber und sollten deshalb auch nicht zur Erfüllung der Bedürfnisse ihrer Mutter nach Anerkennung und Liebe herangezogen werden. Sie sollen ja gar nicht alles wissen. Oder vielleicht erst sehr viel später, wenn sie selbst einmal erwachsen sind. Erst dann werden sie vielleicht erkennen, was es heißt, Eltern zu sein, und dann erst werden sie sich so richtig bedanken können – nicht für die Maultaschen, wohl aber für den ganzen Rest.
Nächstes Jahr schicke ich die Strolche vielleicht am Muttertag mit Monsieur eine Weile fort, damit ihre Mutter mal Zeit hat, Mensch zu sein. Und danach wieder liebend gern Mutter ist und statt Karten mit hochtrabendem Text lediglich verlangt, fest in klebrige Arme geschlossen zu werden.
Lilli legt los - 12. Mai, 10:32