Strolche
Der kleine Strolch hat eine Nichts-Phase. Nichts interessiert ihn, nichts macht ihm Spass, am liebsten will er Nichts mit seinen Eltern unternehmen. Die wollten gestern aber Schlittschuhlaufen gehen, schliesslich hatte es "nur" minus 9 Grad, was mit der richtigen Kleidung durchaus auszuhalten ist, und die Sonne strahlte vom blauen Himmel herunter. Der grosse Strolch musste Hausaufgaben machen und war deshalb vom Familienausflug befreit.
"Nein, ich geh nicht mit", sagte der kleine Strolch.
"Doch", sagte sein Vater.
"Nein."
"Doch."
"Ich hab aber keine Lust", erklärte der kleine Strolch.
"Wenn wir erst mal anfangen, wirst du schon Lust kriegen."
"Nein."
"Du hast aber keine Wahl, du gehst mit."
"Warum darf ich das nicht entscheiden?"
"Weil du nicht volljährig bist."
"Dann ruf ich den Jugendschutz an", drohte der kleine Strolch und scherzte nur halb.
"Ja, aber zuerst gehst du mit."
Lilli zwingt ihn zudem, seine Skihose mitzunehmen, denn nur in Jeans wird es zu kalt sein. Am Eisplatz angekommen, liegt der in gleissendem Sonnenlicht. Weit und breit ist keine Menschenseele zu entdecken. Das Häuschen, in dem man seine Schlittschuhe anziehen kann, ist gut geheizt und ebenfalls menschenleer. Lilli zieht ihre Schlittschuhe an, Monsieur hat für den kleinen Strolch zwei alte Paar vom grossen Strolch dabei, zur Auswahl. Beide sind zu klein. Lilli zieht ihre Schlittschuhe wieder aus und gibt sie dem kleinen Strolch. "Die sind mir Auch zu Klein", sagt der kleine Strolch. "Nein, du wirst schon sehen", sagt da Monsieur, macht die Schuhbändel bis ganz nach vorn auf, fädelt den Strolchfuss in den Schlittschuh, zieht die Schuhbändel fest. "Passt doch", sagt Monsieur erleichtert. "Eigentlich hätte er noch seine Skihose anziehen sollen", meint Lilli und hält ihnen die Hose entgegen. Zu spät. Der zweite Schlittschuh wird angezogen, der kleine Strolch stakst hinaus in Richtung Eis. Lilli zwängt sich in die alten Schlittschuhe vom grossen Strolch, insgesamt 20 Minuten sind sie jetzt in dem gut geheizten Häuschen zugange und völlig verschwitzt. Als Lilli die Tür zum Eis aufmacht, pfeift ihr ein eiskalter Wind um die Ohren. Der Eisplatz liegt völlig ungeschützt neben der Schnellstrasse und neben dem Sankt-Lorenz-Strom. Die gefühlte Kälte siedelt sich irgendwo um die minus 20 Grad an, keine Wunder sind sie allein auf dem Eis. Der kleine Strolch kommt ihr mit rotem Gesicht entgegen, inzwischen hat er sich tatsächlich mit der Idee abgefunden, ein paar Runden zu drehen, aber Lilli sieht ihn kaum vor lauter Tränen in den Augen. Zehn Minuten später sind sie zurück im Häuschen, zerren sich die Schlittschuhe von den Füssen, reiben sich die Backen und die Hände. "Das war jetzt aber mal lustig", meint der kleine Strolch sarkastisch. Dann prusten sie los vor Lachen.
Lilli legt los - 17. Feb, 08:21
Lilli nimmt den kleinen Strolch mit ins Theater. Ins grosse Theater, keine Kinder- oder Schulaufführung, sondern eine richtig ausgewachsene Inszenierung von Victor Pilon und Michel Lemieux, zwei Multimediakünstlern, die die Geschichte von Dädalus und Ikarus neu erzählen. Es gibt Projizierungen, bei denen die verstorbene Mutter über die Bühne schwebt und mit Dädalus diskutiert, Sternenregen, einstürzende Gebäude und eine Mezzosopranin, die auf griechisch singt. "Es war dunkel, angstvoll und verrückt", kommentiert der kleine Strolch hinterher. "Deshalb hat es mir gut gefallen". Lilli weiss nicht, ob sie dieser (berechtigte) Kommentar nun glücklich macht oder nicht.
Lilli legt los - 10. Feb, 15:16
Lilli probiert ein Maultaschenrezept ohne Fleisch, nur mit Spinat, Eiern und Ricotta. "Warum das denn?", fragt der grosse Strolch entsetzt. Seiner Meinung nach gibt es an schwäbischen Maultaschen nichts zu verbessern.
Lilli legt los - 30. Jan, 18:06
A. und M. sind keine Weichlinge. Auch wenn das Thermometer in Sept-Îles (etwa 900 km nordöstlich von Montréal - ja, auch da leben Menschen) an Silvester minus 34 Grad anzeigte, spielten sie Eishockey. Sie hatten schön viel Platz dabei.

Lilli legt los - 27. Jan, 10:52
Die Basketballtrainerin des kleinen Strolches ist ein Bulldozer. Sie schreit die Kinder an, jagt sie im Zwei-Minutentakt der Länge nach über das Spielfeld, ist permanent schlechter Laune oder stinksauer. Jedenfalls wirkt sie so vom Rande des Spielfelds, und selbst als der kleine Strolch (endlich) einen Punkt macht, nimmt sie ihn zur Seite, um ihm mit gerunzelter Stirn vorzuhalten, was alles nicht richtig war. Er soll seine linke Hand mehr einsetzen, das haben sie jetzt schon seit September geübt, wer das jetzt immer noch nicht kann, verdient keinen Platz in der Mannschaft und kann nach Hause gehen. So geht das über Wochen, bis der kleine Strolch weinend bei Lilli in der Küche sitzt und gar nicht mehr Basketball spielen will, weil er ja doch immer nur ausgeschimpft wird. Lilli trifft sich mit der Trainerin und fragt sie, wie sie den kleinen Strolch generell so einschätzt. "Ein vielversprechender Spieler, grosses Talent, trainiert gut mit und zeigt, vor allem seit ein paar Wochen, Fortschritt um Fortschritt", sagt die Dame. Sie sieht sehr böse dabei aus. Sie spricht böse, runzelt die Stirn, die dunklen Augen schauen düster drein. "Nun, es wäre gut, das dem kleinen Strolch mal zu sagen, denn er hört immer nur das Gegenteil", meint Lilli daraufhin. Die anschliessende Diskussion läuft darauf hinaus, dass die Trainerin dem kleinen Strolch (wahrscheinlich zum ersten Mal seit September) versichert, dass sie grosse Stücke auf ihn hält und versuchen wird, ihn das auch merken zu lassen. Von positiver Verstärkung oder anderen pädagogischen Konzepten hat sie wohl schon gehört, wenn sie auch noch nie versucht hat, sie in ihr Training einzubinden. Der kleine Strolch läuft rot an, will trotzdem zuerst das Training fallen lassen und stimmt schliesslich widerwillig zu, noch ein paar Wochen dranzuhängen. Und die Kritik der Trainerin nicht persönlich zu nehmen. Hinterher ist Lilli so erschöpft, als hätte sie einen Marathon hinter sich. Schliesslich sind sie zu dritt auch ein ganzes Stück Weg gegangen. Ob es genug war, um dem kleinen Strolch die Freude am Basketball wieder zu bringen, wird sich zeigen.
Lilli legt los - 22. Jan, 09:40
Der grosse Strolch sieht im Moment aus wie eine Tigerente. Gestreift nämlich, und zwar auf dem Rücken. Von heute auf morgen sind mehrere parallele, etwa fünf Zentimeter lange Horizontalstreifen auf seinem Rücken aufgetaucht. Mehrere liegen in Gürtelhöhe, eine zweite Gruppe hat sich etwas höher in der Rückenmitte installiert. Zuerst dachte Lilli, dass er sich gegen einen Stuhl mit entsprechender Lehne gedrückt haben musste, aber die Streifen blieben hartnäckig unverändert. Ob er vielleicht geschlagen worden war? Nein, versicherte der Strolch und blickte Lilli treuherzig in die Augen. Auf den Rücken gefallen? Fehlanzeige. Dann tastete Lilli sowohl die Football- als auch die Hockeyuniform ab, aber auch da fand sie keinen Schuldigen. Über die nächsten Tage hinweg blieben die Streifen unverändert rot und zeigten keinerlei Ansätze zur Heilung. Er konnte also wirklich nicht geschlagen worden sein - insgeheim hatte Lilli sich ja gefragt, ob ihr Sohn vielleicht mit einem Gürtel verprügelt worden wäre und so sehr Angst vor seinen Angreifern hat, dass er verneint, als lauthals anzuklagen. Man liest ja Zeitung...
Interessanterweise schlägt Google bei der Suchanfrage nach horizontalen Streifen sofort "auf dem Rücken" vor, und mehrere Jugendliche stellen in Foren Fragen nach plötzlich auftretenden Streifen. Medizinisch verlässliche Antworten darauf gibt es aber keine, auch keine sonst irgendwie glaubhafte Seite über dieses Phänomen. Kann es wirklich sein, dass der grosse Strolch so extrem gewachsen ist, dass das Unterhautfettgewebe reisst und ihm Schwangerschaftsstreifen auf dem Rücken beschert? Morgen gehen sie jedenfalls zum Arzt, der hoffentlich nicht gleich den Jugendschutz anrufen wird.
Lilli legt los - 16. Jan, 10:00
Streng nach dem Prinzip "Weniger ist mehr" (weniger Zeug im Koffer bedeutet mehr Platz für Schokolade) haben Lilli, Monsieur und die Strolche natürlich zum Rückflug nach Montréal die Winterstiefel angezogen. Bei der Sicherheitskontrolle mussten sie mit aufs Band gelegt werden. Als der Beamte die Stiefel des grossen Strolches sah, meinte er scherzhaft: "Wo willst Du denn mit solchen Stiefeln hin? Nach Sibirien?"
"Schlimmer", hätte da der grosse Strolch antworten sollen.
Lilli legt los - 9. Jan, 18:08
Lillis Film ist fertig. Die letzten Wochen über hat sie die Strolche im Alltag gefilmt, um ihren Eltern an Weihnachten zeigen zu können, wie das Leben so im Lillischen Haushalt abläuft. Das Ergebnis kann als holpernd bezeichnet werden, schliesslich ist es das erste Mal, dass sie mit Windows Movie Maker arbeitet. Dennoch ist es rührend, die eigenen Kinder auf dem Bildschirm zu sehen, und die Begleitmusik macht den Schokoguss drüber, der garantiert, dass Lilli in ein paar Jahren die Tränen kommen werden, wenn sie den Film dann in einem Anfall von Nostalgie wieder anschaut. Entscheidende Momente aber fehlen im Video, weil keiner dran denkt, in intensiven Augenblicken zur Kamera zu greifen. Entweder ist man mit drin und darf fühlen, oder man filmt als Aussenstehender und verewigt den Moment, ohne ihn zu erleben. Weshalb Lilli zwar weiter filmen, sich aber nicht zur Dokumentaristin ihrer Familie entwickeln wird. Starke Momente werden fehlen in ihrer Filmographie. Da ist ihr das Erleben wichtiger als das Verewigen.
Lilli legt los - 18. Dez, 10:45
Die Deutschlehrerin war am Sonntag zum letzten Mal da. Sie hat in den sechs Kursen ein ehrgeiziges Programm abgewickelt: Orts- und Zeitangaben (man sagt "am Dienstag, am Morgen, aber in der Nacht"), regelmässige und unregelmässige Verben, zusammengesetzte Verben, Präsens und Perfekt, Nebensätze mit "wenn, ob, weil", sogar Weihnachtslieder hat sie mit den Strolchen gesungen. Lilli will wissen, ob sich die Strolche jetzt gut auf ihre Deutschlandreise vorbereitet fühlen, ob der Deutschunterricht wirklich was gebracht hat? "Bloss a bissle", sagt der grosse Strolch in perfektem Schwäbisch und grinst. Das hat ihm sein Opa schon beim letzten Besuch vor drei Jahren beigebracht.
Lilli legt los - 17. Dez, 10:36
Die
Lehrerin, die die Deutschkenntnisse der männlichen Familienmitglieder in Lillis Haushalt auf Vordermann bringen soll, war schon dreimal da. Mit Arbeitsbögen, einer grossen Deutschlandkarte und Kärtchen mit Verben und Adjektiven drauf. So hat Lilli früher natürlich nie mit den Strolchen deutsch geübt, sie hat es einfach mit ihnen gesprochen und die Strolche haben ihr genauso einfach geantwortet. Jetzt hört Lilli Regeln wie: "Kann man eine Frage mit Ja oder Nein beantworten, steht das konjugierte Verb an erster Stelle" und "Endet die Wurzel des Verbs auf d oder t, wird beim "Du" ein "e" vor der Endung "st" eingeschoben (finden - du findest). Tatächlich? Ausser "-chen und -lein machen alle Dinge klein" kann sich Lilli an keine einzige Regel erinnern, die sie je bewusst lernen musste. Das ging doch alles ganz automatisch! Hätte sie mal lieber weiter mit den Strolchen deutsch gesprochen, dann müssten sie jetzt nicht so pauken...
Lilli legt los - 1. Dez, 10:10