Zeitmanagement
In Kanada ist das Wetter knapp, zumindest das schöne, das mit Sonne, Wärme und leichtem Wind daherkommt. Stellt sich so ein Tag ein, muss man ihn stehenden Fusses nutzen, da man nicht weiss, wann sich eine derartige Gelegenheit wieder bietet (während man genau weiss, dass der nächste Schneesturm garantiert nicht auf sich warten lassen wird). Diesen Sommer aber reihen sich die schönen Tage aneinander wie die Perlen auf Lillis ungeliebtem
Weihnachtsgeschenk , und wenn Lilli nicht gerade arbeiten muss, fährt sie mit den Strolchen Fahrrad, geht schwimmen oder vergnügt sich sonstwie im Freien. Und da dieser Zustand schon seit mehreren Wochen anhält, sieht Lillis Haushalt dementsprechend vernachlässigt aus. Auch sind noch keine neuen Schulhefte gekauft, obwohl die Schule in zwei Wochen wieder losgeht, der grosse Strolch hat Löcher in den Turnschuhen und der kleine Strolch keine einzige lange Hose, die nicht an den Knien zerrissen wäre. Deshalb ist es geradezu ein Segen, dass es heute mal regnet: endlich werden wichtige Dinge erledigt werden können, ohne dass man deshalb ein schlechtes Gewissen haben müsste. Und jetzt schnell, denn morgen schon soll die Sonne wieder scheinen...
Lilli legt los - 16. Aug, 09:32
Letztes Jahr feierte Lilli ihren Geburtstag
hoch in der Luft, dieses Jahr wird sie in einem Erdbeerfeld sitzen und in sich hineinstopfen, was die Erde an Süssem und Rotem hervorgebracht hat. Dabei wird sie sich wundern, wievel Neues sie in nur einem Jahr erlebt und tatsächlich auch überlebt hat, und wie sie dadurch zwar kein besserer, aber doch ein reiferer (kompletterer?) Mensch geworden ist. Passend dazu rührte sie ein Zitat, heute in der Mittagspause in einer Zeitschrift erhascht, fast zu Tränen: "Ich hoffe, dass ich am Ende sagen kann, mein Leben nicht nur in seiner ganzen Länge, sondern auch in seiner ganzen Breite gelebt zu haben."
Und die Breite, die fängt jetzt an, denn ab heute hat Lilli Ferien.
Lilli legt los - 22. Jun, 18:28
Manchmal ist es ja so, dass man sich über die unaufgeräumte Garage ärgert, man dieses löbliche Projekt aber nicht in Angriff nehmen kann, solange nicht der Wäscheberg beseitigt ist, dieser aber diese Woche besonders gross ist, weil man seine Zeit mit Papierkram zubringt, der noch wichtiger ist als die Wäsche oder die Garage. Es ist aber die Garage, die an einem nagt, und da man kaum über den Wäscheberg oder den Papierstapel hinwegsieht, beschleicht einen manchmal das Gefühl, dass der Alltag uns auffrisst, bevor man dazu kommt, irgendetwas Konstruktives zustande zu bringen in seinem ganzen, kleinen, mit Nichtigkeiten zugemülltem Leben. Man fängt an, zu glauben, dass man für alle Zeiten glücklich sein würde, wenn man nur eine aufgeräumte Garage hätte, dass aber dieser seelische Zustand ins Unerreichbare abdriftet, da sich der Papierkram und vor allem die schmutzige Wäsche Woche um Woche wie durch einen besonders teuflischen Zauberspruch von selbst erneuert.
Dann kommt der Tag, an dem der Papierkram erledigt ist und schon morgens um 9 Uhr die zweite Maschine Wäsche läuft. Dann könnte man endlich - ENDLICH - die Garage aufräumen und für alle Zeiten glücklich sein. Tut man aber nicht. Statt dessen kauft man frischen Rhabarber und macht einen dieser Aufläufe mit Streuseln obendrauf, die mit Schlagsahne gegessen werden müssen und so eine schöne Abfolge von sauer, süss und knusprig im Mund erzeugen, dass man tatsächlich wie in der Joghurtwerbung die Augen schliesst, um besser geniessen zu können. Und vertagt das grosse Glück der aufgeräumten Garage auf einen späteren Zeitpunkt. Jawohl, manchmal will man nur ein kleines Glück, dieses aber sofort.
Lilli legt los - 7. Jun, 13:40
Seit Monsieur mit der Sache in Belgien beschäftigt ist, arbeitet er auch nachts, um die Belgier zu erwischen, wenn bei ihnen gerade Tag ist. Um die Mittagszeit beruhigt sich die belgische Front dann und lässt ihm Gelegenheit, sich um seine inländischen Projekte zu kümmern. "Und wann schläfst du?", fragt Lilli. "Von mittags bis drei", gibt Monsieur zu. Mit dem Kopf auf seinem Schreibtisch, da sein Büro zu vollgestopft ist, als dass er sich dort der Länge nach ausstrecken könnte. Warnung: dem nächsten, der den Ausdruck "Work-Life-Balance" in den Mund nimmt, springt Lilli an den Hals.
Lilli legt los - 17. Mai, 11:15
...die blauen Christbaumkugeln, in denen man sich spiegeln konnte und dabei lächerlich verformt UND blau im Gesicht aussah;
...die Puppenküche mit den kleinen, in ein winziges Geschirrtuch eingewickelten Löffeln, mit der Lilli nur an Weihnachten spielen durfte;
...das Klingeln des goldenen Glöckchens, das der Vater dann bimmeln ließ, wenn alle Kerzen angezündet und alle Geschenke unter dem Baum verteilt waren;
...das Weihnachtsfest 1975, an dem sie endlich lesen konnte und der Tante aus ihrem ersten Buch vorlas: „Und ganz tief in meinem Herzen denke ich immer noch: du stinkst“, und das entsetzte Gesicht der Tante;
Und so sehr Lilli auch nachdenkt, weiter geht ihre Liste der schönen Erinnerungen an Weihnachten nicht. An Geschenke, obwohl es sie stapelweise gab, kann sie sich nur undeutlich erinnern, keines davon hat es geschafft, so bedeutungsvoll zu sein, dass es ihr bis heute im Gedächtnis hängengeblieben wäre. Und Lilli fragt sich, warum sie heute extra noch in der Mittagspause bei minus 200 Grad ins Kaufhaus gestiefelt ist, um den Strolchen neue Schlafanzüge zu kaufen…
Lilli legt los - 21. Dez, 21:42
So, wie es im Moment aussieht, scheint es die beste Lösung zu sein, Weihnachten erst im Januar zu feiern. Denn bis nächsten Donnerstag kriegt Lilli garantiert nicht alles auf die Reihe. Die "Gutsle" wurden bis auf Lebkuchen radikal gestrichen, die Dekoration bisher auf ein Minimum reduziert. Geschenke müssen zum Grossteil heute gekauft werden und das Weihnachtsessen... ja, das Weihnachtsessen hat noch überhaupt keine Form angenommen. Ob der Pizzaservice wohl auch am 24. liefert?
Lilli legt los - 16. Dez, 08:43
Seit der grosse Strolch ein
Aquarium hat, gehören Fische trotz ihrer eher kalten Art zu Lillis Familie dazu. Vor kurzem hat der grosse Strolch etwas Erstaunliches über seine flossenschlagenden Zimmergenossen herausgefunden: sie sollen eine Gedächtnisspanne von 3 Sekunden haben. Drei Sekunden! Wenn man sich das mal vorstellt... worum ging es hier noch mal gerade?
Lilli legt los - 4. Nov, 11:30
Lilli ist manchmal müde, sehr müde. Vor allem nach einem Tag im Büro, an dem sie vieles lernen musste, von dem sie dachte, es eigentlich schon zu können – wie zum Beispiel Situationen korrekt in wichtig, dringend, nicht wichtig und nicht dringend einschätzen zu können. Anscheinend machen die meisten Leute ja zuallererst, was dringend ist (egal, ob wichtig oder nicht), bevor sie zu den wichtigen (aber nicht unbedingt dringenden) Sachen durchdringen. Manche bevorzugen auch, sich zuerst mit den nicht wichtigen, nicht dringenden Angelegenheiten zu beschäftigen, und verbringen damit so viel Zeit, dass alles andere liegen bleibt. Letzten Freitag wurde Lilli mit zwei Notfällen überschüttet, die sie sowohl in wichtig wie auch in dringend einstufte und deshalb sofort emsig bearbeitete. Bis sie nach mehreren Stunden hektischen Tuns zu ihrer Chefin durchdrang, die sie darüber aufklärte, dass das Dringende ruhig noch ein paar Tage Zeit hatte und das Wichtige in ihren Augen nicht gar so weltbewegend war. Lilli schluckte daraufhin betreten und fühlte, wie die Müdigkeit über sie kam. Aber vielleicht war es auch nur die Grippe, die sie seither dazu zwingt, nur noch das Dringendste zu machen und ansonsten erschöpft irgendwo rumzuliegen.
Lilli legt los - 28. Okt, 09:31
Heute morgen wollte Lilli aber wirklich mal bügeln. Seit zwei Wochen schon liegt die Bettwäsche im Korb, darüber stapeln sich Hemden und unzählige bunte T-Shirts, die morgens von den Strolchen durchwühlt (und dadurch noch zerknitterter) werden, weil ihre Schubladen inzwischen leer sind. Also das Bügelbrett aufstellen, Bügeleisen mit Wasser füllen und einstecken, ein morgendliches Bügelfernsehprogramm einschalten – und nichts. Das Bügeleisen will nicht heiß werden, keinen Dampf spucken, nicht geräuschvoll Wassertröpfchen und Kalk rotzen, wie es das sonst so verlässlich tut. Es hat irgendwann zwischen Nacht und Morgen den Geist aufgegeben und vereitelt nun Lillis hausfrauliche Ambitionen. Dabei war sie wirklich fest entschlossen, das Unmenschliche nun endlich anzugehen. Und muss jetzt sehen, wie sie den Tag stattdessen rumbringt…
Lilli legt los - 13. Okt, 19:42
Lillis früherer Boss, ein kreativer Mensch, mit dem sie sich nicht gut verstand, verbrachte lange Wochen damit, Texte zu schreiben. Er war dann nicht besonders ansprechbar und begründete seine mentale Abwesenheit mit den Worten: „Je suis en écriture“ – eine etwas seltsame Formulierung, die das Schreiben mit einem Ort gleichsetzt, so wie man etwa sagt „Ich bin in Finnland“ oder „Ich bin in Hawaii“. Vor kurzem hat Lilli ein altes Projekt wieder hervorgeholt, das bei näherer Hinsicht zu weit fortgeschritten ist, um es nicht auch zu vollenden. Außerdem hat sie gerade eine Auftragsflaute Zeit, weshalb sie sich vorgenommen hat, von nun an jeden freien Nachmittag mit Schreiben zu verbringen. Und komischerweise versteht sie jetzt, was ihr damaliger Boss mit seiner Formulierung meinte. Das Schreiben ist tatsächlich ein einsames Vergnügen, oder vielmehr richtige harte Arbeit, bei der man der leeren Bildschirmseite entsetzlich allein ausgeliefert ist. Wenn das Schreiben aber fließt, versinkt die Welt um einen herum und macht Platz für ein neues Land, das man selbst erfunden hat. Erst, wenn die Strolche nach der Schule an der Tür klingeln, kommt Lilli wieder zurück an ihren Schreibtisch – mit der deutlichen Empfindung, sich tatsächlich woanders aufgehalten zu haben. Ihre Tage werden dadurch richtiggehend ereignisreich, wenn sich auch von außen betrachtet rein gar nichts zugetragen hat.
Lilli legt los - 12. Mai, 15:32